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Abi mit Hilfe: An der Samuel-Heinicke-Fachoberschule lernen hörgeschädigte Jugendliche fürs Abitur

München (epd). Matthias trägt eine Hörhilfe, Alex spricht mit den Händen und Lehrerin Jutta Behnke spricht über ein Mikrofon. Mit technischen Hilfsmitteln können an der Samuel-Heinicke-Fachoberschule in München hörgeschädigte Schüler ihr Abitur machen.

 

"Klatsch und Tratsch", sagt Matthias. Leona runzelt fragend die Stirn. Matthias macht mit der Hand eine "Blabla"-Geste. Leona nickt und greift zum Stift. "Interviews mit Prominenten", schreibt sie. Matthias liest, nickt ebenfalls. Dann erklärt seine Sitznachbarin ihre Idee. Matthias und Leona haben beide eine Hörschädigung. Doch die hält die Jugendlichen nicht davon ab, ihr Fachabitur zu machen.

Im Unterricht verständigen sie sich mit einem Mischmasch aus gesprochenen, geschriebenen und gezeigten Worten. Und verstehen sich bestens. "Die Intelligenz unter Hörgeschädigten ist genauso hoch wie unter normal Hörenden", sagt Reinhard Römer. Er leitet die staatlich anerkannte Samuel-Heinicke-Fachoberschule (SH-FOS) in München. Sie ist eines von wenigen Angeboten in Deutschland, das Hörgeschädigten seit 30 Jahren ermöglicht, unter spezieller Betreuung die Hochschulreife zu machen. Von überall kommen daher Schüler an die FOS mit eigenem Internat. Schüler wie Daniel, der schnell merkte, dass ihn sein Beruf als Bürokaufmann unterfordert. Doch um studieren zu können, braucht er das Abitur. Die Klassen an der privaten Schule der Augustinum Gruppe haben maximal 15 Schüler, nicht alle haben eine Hörschädigung. "Das Spektrum reicht von leichten Hörschäden bis zur Gehörlosigkeit", erklärt Römer. Dazu kommen Schüler mit auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Die anderen 40 Prozent der Jugendlichen hören ganz normal. Sie haben andere oder "keine festgestellten" Behinderungen, wie es Römer nennt. Es sind zum Beispiel Schüler mit ADHS oder Leseschwächen, die an der Regelschule nicht mitkamen. Dass die Hörgeschädigten nicht bloß unter sich sind, war ihr eigener Wunsch. "Es ist für später wichtig, denn im Studium oder am Arbeitsplatz sind sie auch mit Hörenden zusammen", sagt der Schulleiter. Und diese "normale Welt" ist das Ziel der Jugendlichen. Die Hälfte von ihnen studiert nach dem Abitur, die anderen versuchen sich auf dem regulären Arbeitsmarkt. Wolfgang Hinrichs betreut seine ehemaligen Schüler auf diesen Wegen. "Zwar studieren mittlerweile viele Hörgeschädigte - die Unis sind aber längst nicht routiniert im Umgang mit ihnen", sagt der Religionslehrer, der auch Hörgeschädigte an Regelschulen begleitet. "Ich finde beide Wege gut, es muss für den Einzelnen passen", sagt er. Häufig beginnen sie an Regelschulen und wechseln dann auf die SH-FOS. Definitiv seien ihre Noten hier besser, ist Römer sicher. Denn mit der sonderpädagogischen Förderung könnten Regelschulen nicht mithalten. Für Hinrichs ist wichtig, dass Hörgeschädigte auch unter sich sind: "Sonst sind sie immer nur die Schwerhörigen, hier finden sie eine Identität jenseits dieser Einschränkung." Hörgeschädigte aus Regelschulen müssten häufig erst aus ihrem Schneckenhaus gelockt werden. "Sie sind schüchtern, trauen sich nicht nachfragen oder etwas fordern", sagt er. Erst unter Gleichgesinnten bekämen sie mehr Selbstbewusstsein. Und in der Tat geht es im Unterricht bei Lehrerin Jutta Behnke alles andere als schüchtern zu. Die Schüler lachen und scherzen, widersprechen und fragen nach. "Wie ist nochmal das Zeichen für Internet?", fragt Behnke ihre Klasse. Unter den Schülern entbrennt eine Diskussion, schließlich einigen sie sich auf eine Geste. Behnke lächelt: "Ich bin Anfängerin in Sachen Gebärdensprache", sagt sie. Damit sich alle verstehen, nutzen sie verschiedene Kanäle. Die Lehrer haben Headsets und unterstützen das Gesagte durch Gebärden. Auch die Schüler sprechen durch Mikrofone. Wer kann, hört normal, manche lesen von den Lippen. Luisa ist schwer hörgeschädigt, deshalb übersetzt ihre Sitznachbarin Alex das Gesprochene in Gebärdensprache. Auf verschiedenen Wegen kommt am Ende bei allen das Wichtigste an. Und führt sie nicht nur zum Abitur, sondern vor allem in ein selbstbewussten Leben.